Gebt mir mein Psycho-Kraut zurück!

Dr. Matthias Marquardt - Blog - Fettstoffwechsel

PSYCHOLOGIE

Gebt mir mein Psycho-Kraut zurück!

Kürzlich wurden bei einem Geschäftstermin einige Teilnehmer nostalgisch. Wir kamen auf ein Nahrungsergänzungsmittel mit Vitaminen und stimmungsaufhellendem Johanniskraut zu sprechen, das in den 1990er Jahren vielleicht auch wegen des Wortes „anabol“ im Namen in der Triathlonszene sehr populär war.



Natürlich hatte auch ich dieses – legale – Mittel eingenommen (wenn mein Taschengeld dies zuließ) und hoffte auf mehr Tempo. Warum ich meine Stimmung aufhellen sollte, war mir nicht ganz klar. Aber hey, wenn ich abends beim Extra-Schwimmtraining besser drauf bin, bitte sehr! Inzwischen gibt es das Präparat in dieser Form nicht mehr. Alle am Tisch lachten, weil sie Johanniskraut für Sportler irgendwie outdated fanden. Ich wusste nicht, wie ich mich in diesem Moment täuschen sollte!

 

Meine Stammleser wissen: Der Berlin-Marathon naht. Und so starteten auch am letzten Samstagmorgen einige Läufer in meinem Multivan zum Deister (für Süddeutsche sind das Hügel, für uns ist es Hochgebirge!) für einen zweistündigen Traillauf. Nach höflicher Vorstellung unseres für europäische Verhältnisse sehr kleinen, sehr dünnen Neuzugangs mit dunkler Hautfarbe dösten alle im Bus vor sich hin. Nur ich ahnte die Gefahr und fragte meinen Beifahrer, was gefragt werden musste: „Ähem (räusper, räusper), just by the way, what’s your personal best on 10k?“ „Ah, it depends on the training.“ Ich lächelte und setzte, gewillt, mich nicht in die Pfanne hauen zu lassen, hartnäckig nach: „What time?“ „28 or 29 minutes.“ Mir entgleisten alle Gesichtszüge. Plötzlich waren auch hinten alle hellwach. Man hörte Schnappatmung und leises Murmeln, das mit „ach“ anfing und „du Scheiße“ aufhörte. Einer vergewisserte sich noch geistesgegenwärtig, ob dies die 5- oder 10-km-Bestzeit sei. Unser afrikanischer Neuzugang verstand die Frage nicht.

 

Dann schiebst du also deinen alten Kadaver wie eine Dampfmaschine durch den verschneiten Matsch eines Pseudomittelgebirges, guckst schon lange nicht mehr auf die Uhr (viel zu steil!) und neben dir hüpft jemand mit viel zu großer Wollmütze, der zehnmal hintereinander 2:50 min/km rennen kann. Wahrscheinlich dachte er, diese Deutschen sind wirklich völlig beknackt. Gehen zwei Stunden im Matsch spazieren und nennen das Training.

 

Mental zerrüttet kehrte ich nach Hause zurück, wo mich meine Tochter fragte, warum ich so spät käme und nicht mit der Familie gefrühstückt hätte. Hoch wichtig merkte ich an, dass der Papa für den Berlin-Marathon trainiere, und dass das ein sehr großes Rennen sei. „Ach, Papa“, entgegnete sie, „da gewinnst du doch sowieso nicht.“ Nach diesem zweiten Realitätsschock gönnte ich mir erstmal eine Hand voll Aminosäurekapseln, Vitamin C und D als Pillen und was ich sonst noch finden konnte zur Beruhigung. Und mit 20 Jahren Verspätung wurde mir schlagartig klar: Stimmungsaufhellendes Johanniskraut in Substitutions-Pillen macht unbedingten Sinn. Gebt es mir bitte zurück!

 

Ihr Dr. Matthias Marquardt

 

MEIN TIPP:

Johanniskraut ist eine wissenschaftlich anerkannte Therapieoption bei leichten Depressionen. Sportler
brauchen es eigentlich nicht. In hoher Dosis genommen kann es Herzrhythmusstörungen begünstigen und sollte nur nach ärztlicher Rücksprache eingenommen werden.


Einmal im Monat schreibt der bekannte Internist und Laufexperte Dr. Matthias Marqardt im Triathlon-Magazin eine Kolumne zu kontroversen Themen des Laufsports.

 

 www.tri-mag.de



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